19.07.2023 – Kategorie: Medizin & Pharma

Innovationskraft KI: Effizientere visuelle Inspektion in der Pharmaindustrie

Quelle: Körber Pharma Inspection

Aufgrund strikter Auflagen an die Inspektionsqualität und technischer Einschränkungen sind die Fehlauswurfraten in der pharmazeutischen Produktion oft hoch. Die Folge: aufwändige Reinspektionen und Kosten. Der Einsatz neuronaler Netze kann das verhindern.

Wie kann die Pharmaindustrie effizientere visuelle Inspektionen gewährleisten und Fehlerquellen vermeiden? Inspektionsmaschinen sind aufgrund der genannten hohen strikten Auflagen und hohen Qualitätsanforderungen logischerweise sehr genau beim Aussortieren vermeintlich verunreinigter Stoffe. Das sorgt oft dafür, dass viele Produkte fälschlicherweise aussortiert werden. Im Nachgang wird deshalb händisch nochmals nachkontrolliert. Ein Zeit- und Kostenfaktor, bei dem künstliche Intelligenz Abhilfe schaffen kann.

Ursachen für Fehlauswürfe in der pharmazeutischen Produktion

Gegenwärtige Methoden zur Qualitätsprüfung nach der Abfüllung umfassen die manuelle Prüfung jedes einzelnen Produkts durch den Menschen, die halbautomatische Prüfung mit maschineller Unterstützung oder die vollautomatische Inspektion, bei der die Maschine die gesamte Prüfaufgabe übernimmt. Bei zuletzt genannter Methode durchläuft jedes Produkt eine Inspektionsmaschine und wird dabei aus verschiedenen Perspektiven von mehreren Kamerastationen erfasst. Diese Aufnahmen werden in Echtzeit von einer Bildverarbeitungssoftware auf der Maschine analysiert, um potenzielle Defekte im Produkt zu erkennen und dieses gegebenenfalls auszusondern. Die heutige Bildauswertung basiert hauptsächlich auf klassischen, regelbasierten Methoden, die jedoch mit technischen Einschränkungen verbunden sind.

Traditionelle Visionssysteme messen physikalische Werte in spezifischen Bereichen, z. B. Grauwerte, Kontrastwerte, Entfernungen oder Winkel und ziehen aufgrund implementierter Regeln Rückschlüsse auf das ursprüngliche Produkt. Da dieses Prinzip hohe Detektionsraten gewährleisten muss und gleichzeitig sensibel für verwandte, jedoch nicht produktkritische Effekte ist, kommt es häufig zu hohen Fehlauswurfraten, also fälschlicherweise ausgeworfene Gutprodukte.

Aus diesem Grund folgt in der Regel eine manuelle Nachprüfung der ausgeworfenen Produkte, um final zwischen gut und schlecht zu unterscheiden. Dieser aufwändige Prozess verursacht pharmazeutischen Unternehmen oftmals Kosten im einstelligen Millionenbereich, die vermieden werden könnten, wenn das Fachwissen menschlicher Inspektionsspezialisten durch den Einsatz von neuronalen Netzen in vollautomatische Anlagen integriert würde.

KI als Problemlöser: Effizienz und Qualität im Einklang

Die Anwendung von Deep Learning ist für die Auflösung des beschriebenen Problems prädestiniert. Das Ziel besteht darin, das Wissen und die Erfahrung der Inspektionsexperten in eine technische Struktur zu übertragen und der vollautomatischen Inspektionsmaschine zugänglich zu machen. KI-Modelle suchen nach Gut- und Fehlermustern auf dem Abbild des physischen Produktes, anstatt physikalische Werte zu messen. Dadurch wird die Entscheidungsfähigkeit der Maschine verbessert und die Anzahl fälschlich aussortierter Produkte deutlich reduziert. Detektionsraten von Kamerastationen können so um bis zu 35% erhöht werden – mit positivem Effekt auf die Produktqualität. Die Anzahl der Fehlauswürfe wird um 80% bis 95% auf ein Minimum reduziert. Je nach Inspektionsszenario führt dies zu geringeren Produktverlusten und gesenkten Kosten oder sogar zur Eliminierung einer manuellen Zweitinspektion.

Klassifizierung von Gut- und Schlechtprodukten mit InspeftifAIs End-2-End Softwarelösung (Bildquelle: InspectifAI)

Regelkonforme Integration von Künstlicher Intelligenz

In der pharmazeutischen Herstellung steht die Produktqualität immer an erster Stelle. In der streng regulierten Industrie hat sich aufbauend auf weltweiten Regularien ein Good Practice-Standard (GxP) etabliert, der in allen Qualitätsbereichen bindend für die pharmazeutischen Produktion und ihre Zulieferer ist.

Ein wesentlicher Bestandteil ist die Validierung, die in der pharmazeutischen Industrie mithilfe des GAMP 5-Regelwerks erfolgt. GAMP 5 legt eine risikobasierte Vorgehensweise zur Validierung von computergestützten Systemen fest. Diese umfassen die Spezifikation, Implementierung und Konfiguration eines Systems sowie den Nachweis, dass es seinen Zweck erfüllt.

Die Umsetzung erfolgt durch definierte Prozesse, deren Umfang durch eine Risikobewertung gesteuert wird. Da GAMP 5 keine gesetzliche Vorschrift ist, gibt es unterschiedliche Ansätze zur Validierung. Die Herausforderung bei der Anwendung von Machine Learning besteht darin, dass GAMP 5 noch keine spezifische Definition für die Validierung von KI-Modellen enthält. Daher muss der Einsatz von neuronalen Netzen gemäß den allgemeinen Validierungsgrundsätzen als „Good Machine Learning Practice“ (GMLP) interpretiert und angewendet werden.

Eine Herangehensweise zur Validierung von KI-Modellen ist die Anpassung des KI-Lebenszyklus an das klassische V-Modell der Validierung. Die Anforderungen an Detektion und Minimierung der Fehlauswurfraten werden initial formuliert. Der komplette Prozess des Modelltrainings, des anschließenden Testens sowie der finalen Validierung der Modellperformance wird in Form eines “Model Change Report” dokumentiert und ist im Anschluss als Dokument im Rahmen der klassischen Leistungsqualifikationen verfügbar. Das Modell operiert in einem eingefrorenen Zustand – sämtliche Änderungen an dem Modell über den Lebenszyklus hinweg führt zu einem neuen diskreten Zustand und wird über etablierte Change Management Prozesse gesteuert.

Obwohl lernende Systeme vielversprechende technische Möglichkeiten bieten, liegen die Hauptherausforderungen in der Einhaltung regulatorischer Vorgaben. Das Unternehmen InspectifAI hat sich daher zur Aufgabe gemacht, eine maschinenübergreifende Gesamtlösung unter Berücksichtigung dieser Rahmenbedingungen zu entwickeln, die sowohl Qualität als auch Effizienz in der pharmazeutischen Herstellung bedeutend verbessert.

Zukunftsaussicht: Das Potenzial von KI für die pharmazeutische Sichtprüfung

Perspektivisch birgt der Einsatz von lernenden Systemen in der visuellen Sichtprüfung über das oben beschriebene Szenario hinaus ein enormes Potenzial. Zum einen ermöglicht die gemeinsame Nutzung des „gebundenen Wissens“ in Form von neuronalen Netzen erhebliche Vorteile. Wenn die Inspektion eines Produkts nicht nur an einem Standort und einer Maschine, sondern an mehreren Maschinen durchgeführt wird, können die neuronalen Netze mehrfach verwendet werden, was den Aufwand für die Modellerstellung drastisch reduziert.

Darüber hinaus besteht die Möglichkeit, ein für ein bestimmtes pharmazeutisches Produkt entwickeltes neuronales Netz auch für ein anderes, physikalisch sehr ähnliches Produkt zu nutzen. Je ähnlicher die Definition von „gut“ und „schlecht“ für die beiden Produkte ist, desto besser gelingt dieser „Transfer“. Dadurch entsteht ein Modell, das aufgrund seines Wissens über viele Produkte verlässliche Entscheidungen für neue Produkte treffen kann.

Für die visuelle Inspektionsaufgabe bedeutet dies eine Revolution, da der Konfigurationsaufwand von Visionssystemen minimiert wird, während gleichzeitig die Leistung verbessert und ein hohes Skalierungspotenzial erreicht wird.

Mario Holl, Foto Victor Strasse by InspectifAI

Der Autor: Dr.-Ing. Mario Holl ist MD & VP Product, Sales and Relations bei InspectfvAI. Er studierte und promovierte im Bereich Maschinenbau an der TU Darmstadt. Im Anschluss trat er seine Position als Assistent des CEO der Körber Pharma Sparte an. Anschließend erfolgten weitere Anstellungen als Digital Transformation Officer und Chief Digital Officer. In dieser Funktion trieb er die Ausgründung von InspectifAI voran, dass sich der Anwendung von künstlicher Intelligenz in der visuellen pharmazeutischen Inspektion annimmt. Mario Holl baute das Unternehmen auf 30 Mitarbeiter auf, gewann die ersten Kunden und verantwortet als MD alle kommerziellen Themen des Körber Ventures.


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